Sonntag, 10. März 2013

Roma Termini


Eine Bekannte fragt nach Tipps für Rom und in meinem Kopf beginnt ein Film zu laufen, an den ich schon lange nicht mehr gedacht hatte ... grazie, Nora!
Erinnerungen an meine frühe Kindheit tauchen auf, als wir, wie viele andere sogenannten italienischen Gastarbeiter damals auch, in den Sechzigerjahren und noch weit darüber hinaus jeden Sommer mit dem Zug für vier lange Wochen in das Heimatdorf meines Vaters fuhren.
Wir, das waren meine Mutter, mein Vater, meine ältere Schwester und ich. Damals gab es noch einen direkten Nachtzug, der am frühen Abend in Basel losfuhr und am nächsten Morgen kurz vor acht in Rom ankam.
Mein Vater war für die Fahrkarten und das Schleppen der Koffer verantwortlich, meine Mutter für die Kofferinhalte und den Reiseproviant. Selbstgemachte Panini, Früchte, Wasser und Süsses für uns Mädchen und – ganz wichtig für die Erwachsenen – starker, heisser Espresso aus der Thermoskanne für den nächsten Morgen.
Der nächste Morgen, das war Florenz in rosagoldenes Sonnenlicht getaucht und der stets gleiche Satz meiner Mutter an meinen Vater: «Wann zeigst du mir denn endlich mal Florenz?» Mein Vater lächelte nur und streckte meiner Mutter den leeren Becher hin, den sie mit Espresso auffüllte und von dem auch ich ein Schlückchen kosten durfte.
Der Zug fuhr weiter. Das Ziel war Roma Termini und mir schien, als würde es von Florenz bis Rom ewig dauern.
Ich beobachtete meine Eltern. Je näher Rom rückte, desto verklärter wurden ihre Blicke. Sie hatten sich Anfang der Fünfzigerjahre in Rom kennengelernt und waren dort, bevor sie heirateten, vier Jahre lang verlobt gewesen. Sie kannten jeden Winkel der ewigen Stadt, waren, einander an den Händen haltend, auf jeden der sieben Hügel gestiegen, hatten Zukunftspläne geschmiedet, sich gestritten, wieder versöhnt und heimlich geküsst, denn damals war das so. Meine Mutter wohnte und arbeitete als Kindermädchen in einer gut situierten römischen Familie, mein Vater war ein schöner Unteroffizier in schmucker Uniform und wohnte in einer Militärkaserne.
Ihre Geschichte, die sie uns jedes Jahr aufs Neue und mit sichtlichem Genuss erzählten, vertrieb uns Kindern die Langeweile auf den letzten Kilometern vor Rom.  
Bis dann endlich der Schaffner vorbeikam und verkündete, dass wir demnächst in der Stazione Roma Termini ankommen würden. Hier stiegen alle Reisenden aus. Mein Vater organisierte einen Gepäckträger, der unsere Koffer auf den richtigen Bahnsteig für die Weiterfahrt brachte. Die Lire für den Gepäckträger trug er lose in der rechten, vorderen Hosentasche auf sich und nicht wie die Franken in der Schweiz säuberlich geordnet im Portemonnaie. Das wirkte sehr locker und lässig auf mich. Er war jetzt daheim, in seiner Heimat, konnte sich problemlos verständigen und wurde problemlos verstanden.
Unsere Ferien hatten endlich begonnen. In den Koffern warteten die neuen Sommerkleider, die uns meine Mutter jedes Jahr pünktlich vor den Ferien im Ausverkauf gemäss ihren äusserst strengen Kriterien nach italienischer Ästhetik, Qualität und gutem Preis aussuchte und kaufte. Auf mich wartete ausserdem eine kleine, durchsichtige Wasserpistole für den Strand, die mir mein Vater jedes Jahr neu kaufte.
Der Regionalzug, der uns weiter in den Süden, in das Heimatdorf meines Vaters bringen würde, fuhr erst in ungefähr vier Stunden.
Roma Termini, das waren Rudel von erstaunlich jungen, schwarz gekleideten Nonnen mit grossem Kruzifix um den Hals und Matrosen in weissen Uniformen mit glänzend goldenen Knöpfen. Bilder, wie man sie aus den Filmen von Fellini kennt. Und mittendrin waren wir mit unseren Koffern. Gastarbeiter aus Italien, ausgewanderte Italiener aber auch Gli svizzeri. So wurden bald einmal die in die Schweiz ausgewanderten Italiener von den Daheimgebliebenen genannt. Das war befremdlich und stellte mich schon sehr früh vor Fragen, die ich den Erwachsenen kaum zu stellen wagte. Das Thema war emotional geladen.
Roma Termini, das waren hohe, schwarze Marmorquader mit einer Öffnung, in die man sich hineinsetzen oder auch legen konnte und kleine Trinkbrunnen, die zur Erfrischung dienten.
Roma Termini war stundenlanges Warten auf den fast immer mit Verspätung eintreffenden Regionalzug. Ein Regionalzug mit harten, unbequemen Holzbänken, geblümten, staubigen Vorhängen und auf Kinderaugenhöhe angebrachten Schildern mit der Aufschrift: Non gettate alcun oggetto dai finestrini.
Aber noch waren wir in Rom, an diesem wunderbaren Bahnhof, der meine Fantasie anregte. Irgendwann in den vier Stunden Wartezeit holte meine Mutter an einem Ort, den sie noch von früher kannte, in Begleitung meiner älteren Schwester kleine Pizzas für uns alle.
Ich selber verspürte nie den Drang mitzugehen. Ich zog es eindeutig vor, zusammen mit meinem Vater auf unsere Koffer aufzupassen. Beide schwiegen wir dabei. Er hing seinen Gedanken nach, lief ein bisschen umher – die Koffer und mich stets im Auge behaltend – während ich die Menschen um uns herum beobachtete und gleichzeitig von der Wichtigkeit unserer gemeinsamen Aufgabe komplett erfüllt war.