Donnerstag, 27. Juni 2013

Chettinadu war auch ein bisschen Heimat.


Es ist der 27. Dezember 2011. Die Fahrt von Madurai bis in die Region Chettinad bzw. das Dorf Chettinadu dauert gute zwei Stunden. Ganesh, mein Fahrer, ist diskret und spricht nur wenn ich ihn anspreche. Für sein Schweigen bin ich ihm dankbar, denn diese Indienreise soll auch eine Reise in die Stille und zu mir selber sein. Ab und zu blickt er in den Rückspiegel, wie um sich zu vergewissern, dass ich noch da bin. An diesem Vormittag fällt ein feiner, leichter Regen, an mir ziehen Reisfelder und kleine Seen vorbei.
Chettinad liegt im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu und ist für eine besonders schmackhafte Küche und erlesene Architektur berühmt. Das Gebiet wurde ursprünglich von den Chettiars besiedelt, eine gut betuchte Händlerkaste, die im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts viele Geschäfte in südostasiatischen Ländern tätigte und dadurch zu grossem Reichtum gelangte. Zwischen 1850 und 1940 errichteten sie prachtvolle, elegante zweigeschossige Häuser. Das Hauptmerkmal sind die säulenbestandenen Innenhöfe, von denen es je nach Grösse des Hauses gleich mehrere davon gibt. Die Säulen sind aus Teakholz aus Birma und Indonesien, aus Granit und manche sogar aus italienischem Marmor. Um die Innenhöfe herum gruppieren sich die Räume der verschiedenen Familienmitglieder. Heute stehen die meisten Gebäude fast das ganze Jahr über leer. Die Besitzer leben und arbeiten in den umliegenden Städten. Doch sie halten es wie ihre Urgrossväter und Grossväter: Für wichtige Familienfeiern werden die Häuser geöffnet und auf Hochglanz gebracht.

Ich komme um die Mittagszeit in Chettinadu an. Es hat aufgehört zu regnen, die Sonne bricht langsam hervor. Es ist heiss, die Luft steht still. Da und dort ein paar Kühe und Hühner, die gelangweilt Körner vom Boden picken. Idyllischer Landfrieden. Kontrastprogramm pur nach der wuseligen Millionenstadt Madurai, von der ich gerade komme. Meine Unterkunft ist eines dieser alten, indischen Herrenhäuser. Am Empfang drückt man mir zur Begrüssung ein orangerotes Getränk in die Hand. Ausgerechnet heute sind die Grossenkelin des Erbauers und der jetzige Besitzer des Hauses, ihr Bruder, auch da. Sie feiern ein Fest und sämtliche Familienmitglieder treffen nacheinander ein. Frauen in goldbestickten Saris und Männer, die über ihren Sarongs weisse Hemden tragen, stehen schwatzend, lachend und auf einander wartend in der grossen Eingangshalle. Ausser mir sind noch zwei, drei andere europäische Gäste da. Man bedeutet uns, auf einem der vielen Sofas Platz zu nehmen und auf das Mittagessen zu warten. Ich sinke in einen weichen, grünen Polstersessel, beobachte das bunte Treiben, versuche mir vorzustellen, was sie einander erzählen, was für ein Fest sie wohl feiern werden.
Nach langen Nichtstun, Warten und Beobachten wird mir ein sehr schmackhaftes Mittagessen serviert. Gekocht wird hier mit raffinierten Gewürzmischungen wie zum Beispiel Kombinationen von Sternanis, Lorbeer, Zimt und Bockshornkleesamen, das mit Pfeffer und Chili geschärft wird.
Der Saal ist riesig, ich habe einen ganzen Tisch für mich alleine und werde mit ausgesuchter Höflichkeit bedient. Den Nachtisch schaffe ich nicht mehr.
Ich stehe auf, gehe durch den Innenhof, spüre die Wärme des Nachmittags und steige die alte Holztreppe bis zu meinen Zimmer hoch. Die Fensterläden sind halb geschlossen, der Raum liegt im Halbdunkeln. Die Wände sind leuchtend gelb gestrichen und mit handgemalten Ornamenten verziert. Ich lege mich aufs grosse Bett. An der Decke über mir schwimmt eine rote Rosette in einem grünen Blumenmeer. Im Zimmer nebenan, in das man durch eine Verbindungstür gelangen könnte, telefoniert ein Mann auf Hindi. Draussen kräht ein Hahn. Irgendwo schlägt eine Tür zu. Ich versinke unmittelbar in einen tiefen Schlaf und träume. Vom Leben in einem indischen Herrenhaus. Von dicken Teppichen und weissen, zu Rollen geformten Kissen, die den Wänden entlang am Boden liegen und an die man sich beim Sitzen anlehnen kann. Von schweren, dunklen Möbeln aus poliertem Teakholz und von bunten Saris. Von grünen Laubengängen, filigranen Blumenmustern und einem prächtigen Baum mit leuchtend gelben Blüten. Nach über einer Stunde holt mich mein Wecker in die Gegenwart zurück. Die Augen noch geschlossen, versuche ich zu erraten wo ich bin und in welcher Zeit ich lebe. Es duftet nach Jasmin. Ein Hund bellt. Eine Kinderstimme lacht, eine Frauenstimme ermahnt. Ich bleibe noch einen Moment so liegen, lausche den Geräuschen und den Stimmen im Haus. Genauso hat es bestimmt schon vor hundert Jahren getönt. Am liebsten würde ich liegen bleiben, doch die Frau vom Empfang wartet auf mich. Sie will mir das ganze Dorf zeigen und mich in die alten, zur Besichtigung freigegebenen Herrenhäuser führen.
Chettinadu war schön. Chettinadu war auch ein bisschen Heimat.

Dienstag, 18. Juni 2013

Wiederholungstäterin ...

Es ist mir schon wieder passiert ... Schon wieder die Tasche neben mir und schon wieder rund um mich herum freie Sitzplätze. Jetzt mal im Ernst: Passiert euch das auch?

Sonntag, 16. Juni 2013

Belehrungen am Wochenende


Die Italienerin im Tram: Entweder hat sie mehrere Einkaufstüten oder eine Badetasche bei sich, die sie auf den Sitz nebenan platziert. Nein, nein, keine Sorge es hat genug freie Plätze für die anderen Fahrgäste! So ist es nicht. Doch der ältere Herr am Samstag und die rüstige Seniorin am Sonntag weisen mich, jeder auf seine Art, darauf hin, dass sich so ein Verhalten nun wirklich nicht gehört. Auch nicht wenn das Tram halb leer ist. Wo kämen wir auch hin, wenn das alle tun würden ...?!
Der ältere Herr bellt mich unvermittelt von hinten an: «Ist hier noch frei??» Ich zucke zusammen und antworte – ich gebe es zu – leicht irritiert: «Jawohl!» Doch als ich die Tüten auf meinen Schoss stapeln will, entfernt er sich kopfschüttelnd und sucht sich einen anderen «freien» Platz. Die rüstige Seniorin hingegen ist sehr dezidiert. Sie lässt sich wortlos auf den Sitz neben mir fallen. Meine Badetasche kann ich gerade noch rechtzeitig vor ihrem Hintern retten. Ich wende mich ihr mit einem Lächeln zu, aber sie blickt starr und stumm geradeaus. Sie hat ihr Recht auf einen beliebig freien Platz im Tram eingefordert und diesen auch bekommen. Es gehört sich eben nicht, die Taschen neben sich auf den freien Sitz abzustellen. Auch wenn das Tram leer ist. Gestern und heute hatte ich diese Regel vergessen.

Für meine Handlesefreunde: Merkt ihr wie Gina langsam an die Oberfläche drängt? Wer weiss ... vielleicht sprengt sie diesen Sommer sogar den Diamanten!

Freitag, 7. Juni 2013

Nachtrag zur Unauffälligkeit ...


Gestern, auf der Höhe von Padova, kurz vor Venezia-Mestre, bin ich dann doch noch aufgefallen ...

Wie gewohnt räumte ich meinen Platz auf: Laptop zuklappen, Kabel verstauen, Tasche zu und ... nach dem Motto «Luft raus, Deckel drauf» meine leere PET-Flasche zerdrücken. Bei diesem Geräusch zuckten sämtliche Mitreisende leicht zusammen und blickten mich fragend, fast schon ein bisschen skeptisch an.

Die wenigsten tun dies hier. Und wer es regelmässig tut, ist bestimmt auf irgendeine Art und Weise mit der Schweiz und deren Gepflogenheiten vertraut ...

Es leben die Gegensätze!

Donnerstag, 6. Juni 2013

Wie ist es denn nun in der Heimat?


Der Gedanke eines Blogs über Heimat kam mir auf einer meiner Bahnreisen von Zürich nach Venezia-Mestre. Dort wo meine Freunde wohnen, dort wo Himmel und Wasser sich berühren. Dort wo das Licht auch im Winter hell ist und im Sommer sowieso. Dass ich mir vor vielen Jahren Freunde in, aus oder um Venedig wünschte und diese dann tatsächlich «gekommen» sind, das ist eine andere Geschichte ;)

Der Zug ab Mailand ist gut besetzt. Nein, nicht nur mit amerikanischen und japanischen Touristen, sondern auch mit Venezianern. Die spezielle Intonation wenn sie Italienisch reden, öffnet mein Herz. Ich könnte ihnen stundenlang zuhören. Egal, worüber sie reden. Wie zum Beispiel die drei Geschäftsleute neben mir, die gerade eine Marketingstrategie für ein neues Produkt miteinander besprechen. Venezianer reden nie laut und nie aufdringlich, es sei denn es handle sich um einen aufdringlichen Fischverkäufer am Markt von Rialto ... Venezianisch tönt für meine Ohren geschmeidig, rund, weich, sanft und immer konziliant auch wenn gerade das Gegenteil behauptet wird.

Venedig und das Festland rundherum sind für mich kleine Heimat in der grossen Heimat. Die grosse Ursprungsheimat auf Papier. Jedes Mal wenn sich der Zug von Mailand Richtung Veneto in Bewegung setzt, passiert etwas mit mir. Ich setze mich in diesen Zug, bin eine von vielen, falle nicht auf und werde automatisch auf Italienisch angesprochen. In Zürich werde ich an Kassen von grossen Supermärkten, auf der Post und am Bankschalter regelmässig auf Hochdeutsch angesprochen, was mich oft belustigt, manchmal aber auch befremdet und nicht wirklich zum Heimatgefühl meines Schweizer Passes beiträgt. Insbesondere dann nicht, wenn auf Hochdeutsch im Infinitiv mit mir gesprochen wird. Als Ausländerin kennt man sich ja mit konjugierten Verben nicht so gut aus ...

Hier, in diesem Zug, fällt das Gefühl von nicht wirklich dazugehören weg. Stattdessen breitet sich eine wunderbare «Unauffälligkeit» aus. Wenn man dem so sagen kann. Ruhe und innerer Frieden. Es ist alles in Ordnung – ich bin daheim. Und der Espresso, hier heisst er einfach Caffè, von Trenitalia schmeckt gut und wird in winzigen Bechern ausgeschenkt. Caffè ist eben caffè und nicht Espresso wie in der Schweiz.