Eine
Bekannte fragt nach Tipps für Rom und in meinem Kopf beginnt ein Film zu
laufen, an den ich schon lange nicht mehr gedacht hatte ... grazie, Nora!
Erinnerungen
an meine frühe Kindheit tauchen auf, als wir, wie viele andere sogenannten italienischen
Gastarbeiter damals auch, in den Sechzigerjahren und noch weit darüber hinaus
jeden Sommer mit dem Zug für vier lange Wochen in das Heimatdorf meines Vaters
fuhren.
Wir, das
waren meine Mutter, mein Vater, meine ältere Schwester und ich. Damals gab es noch
einen direkten Nachtzug, der am frühen Abend in Basel losfuhr und am nächsten
Morgen kurz vor acht in Rom ankam.
Mein Vater
war für die Fahrkarten und das Schleppen der Koffer verantwortlich, meine
Mutter für die Kofferinhalte und den Reiseproviant. Selbstgemachte Panini,
Früchte, Wasser und Süsses für uns Mädchen und – ganz wichtig für die
Erwachsenen – starker, heisser Espresso aus der Thermoskanne für den nächsten Morgen.
Der nächste
Morgen, das war Florenz in rosagoldenes Sonnenlicht getaucht und der stets
gleiche Satz meiner Mutter an meinen Vater: «Wann zeigst du mir denn endlich mal
Florenz?» Mein Vater lächelte nur und streckte meiner Mutter den leeren Becher
hin, den sie mit Espresso auffüllte und von dem auch ich ein Schlückchen kosten
durfte.
Der Zug
fuhr weiter. Das Ziel war Roma Termini und mir schien, als würde es von Florenz
bis Rom ewig dauern.
Ich
beobachtete meine Eltern. Je näher Rom rückte, desto verklärter wurden ihre Blicke.
Sie hatten sich Anfang der Fünfzigerjahre in Rom kennengelernt und waren dort,
bevor sie heirateten, vier Jahre lang verlobt gewesen. Sie kannten jeden Winkel
der ewigen Stadt, waren, einander an den Händen haltend, auf jeden der sieben
Hügel gestiegen, hatten Zukunftspläne geschmiedet, sich gestritten, wieder
versöhnt und heimlich geküsst, denn damals war das so. Meine Mutter wohnte und
arbeitete als Kindermädchen in einer gut situierten römischen Familie, mein
Vater war ein schöner Unteroffizier in schmucker Uniform und wohnte in einer Militärkaserne.
Ihre
Geschichte, die sie uns jedes Jahr aufs Neue und mit sichtlichem Genuss erzählten,
vertrieb uns Kindern die Langeweile auf den letzten Kilometern vor Rom.
Bis dann
endlich der Schaffner vorbeikam und verkündete, dass wir demnächst in der
Stazione Roma Termini ankommen würden. Hier stiegen alle Reisenden aus. Mein
Vater organisierte einen Gepäckträger, der unsere Koffer auf den richtigen
Bahnsteig für die Weiterfahrt brachte. Die Lire für den Gepäckträger trug er
lose in der rechten, vorderen Hosentasche auf sich und nicht wie die Franken in der Schweiz säuberlich geordnet
im Portemonnaie. Das wirkte sehr locker und
lässig auf mich. Er war jetzt daheim, in seiner Heimat, konnte sich problemlos
verständigen und wurde problemlos verstanden.
Unsere
Ferien hatten endlich begonnen. In den Koffern warteten die neuen Sommerkleider,
die uns meine Mutter jedes Jahr pünktlich vor den Ferien im Ausverkauf gemäss
ihren äusserst strengen Kriterien nach italienischer Ästhetik, Qualität und
gutem Preis aussuchte und kaufte. Auf mich wartete ausserdem eine kleine, durchsichtige
Wasserpistole für den Strand, die mir mein Vater jedes Jahr neu kaufte.
Der
Regionalzug, der uns weiter in den Süden, in das Heimatdorf meines Vaters
bringen würde, fuhr erst in ungefähr vier Stunden.
Roma
Termini, das waren Rudel von erstaunlich jungen, schwarz gekleideten Nonnen mit
grossem Kruzifix um den Hals und Matrosen in weissen Uniformen mit glänzend goldenen
Knöpfen. Bilder, wie man sie aus den Filmen von Fellini kennt. Und mittendrin waren
wir mit unseren Koffern. Gastarbeiter aus Italien, ausgewanderte Italiener aber
auch Gli svizzeri. So wurden bald einmal
die in die Schweiz ausgewanderten Italiener von den Daheimgebliebenen genannt.
Das war befremdlich und stellte mich schon sehr früh vor Fragen, die ich den
Erwachsenen kaum zu stellen wagte. Das Thema war emotional geladen.
Roma
Termini, das waren hohe, schwarze Marmorquader mit einer Öffnung, in die man
sich hineinsetzen oder auch legen konnte und kleine Trinkbrunnen, die zur
Erfrischung dienten.
Roma
Termini war stundenlanges Warten auf den fast immer mit Verspätung
eintreffenden Regionalzug. Ein Regionalzug mit harten, unbequemen Holzbänken, geblümten,
staubigen Vorhängen und auf Kinderaugenhöhe angebrachten Schildern mit der
Aufschrift: Non gettate alcun oggetto dai
finestrini.
Aber noch
waren wir in Rom, an diesem wunderbaren Bahnhof, der meine Fantasie
anregte. Irgendwann in den vier Stunden Wartezeit holte meine Mutter an einem
Ort, den sie noch von früher kannte, in Begleitung meiner älteren Schwester
kleine Pizzas für uns alle.
Ich selber verspürte
nie den Drang mitzugehen. Ich zog es eindeutig vor, zusammen mit meinem Vater auf
unsere Koffer aufzupassen. Beide schwiegen wir dabei. Er hing seinen Gedanken
nach, lief ein bisschen umher – die Koffer und mich stets im Auge behaltend – während ich die Menschen um uns herum beobachtete
und gleichzeitig von der Wichtigkeit unserer gemeinsamen Aufgabe komplett erfüllt
war.