Freitag, 29. März 2013

Colomba vs. Osterfladen


An Ostern isst man in Italien mehrheitlich Colomba und in der Schweiz Osterfladen. In meiner Familie gibt in der Regel beides. Gegessen wird aber immer zuerst der Osterfladen, weil dieser frisch zubereitet ist. Die Colomba essen wir dann irgendwann einmal im Mai oder im Juni, vor Ablauf des Haltbarkeitsdatums.
Früher, als ich noch ein Kind war und meine Tanten und Onkel auch in der Schweiz lebten, wurde nach dem üppigen Ostermahl Colomba gegessen. Für die Erwachsenen gab es dazu ein Glas Spumante. Der klebrig-süsse Geruch der ausgetrunkenen Kelche war/ist für mich Ostern.
Früher kannte man die Colomba hier überhaupt nicht. Heute wissen die Schweizer besser als wir, wo es die beste Colomba der Stadt zu kaufen gibt.
Einen Osterfladen gibt es in Italien übrigens auch. Die sogenannte «Pastiera napoletana» ist ein Kuchen, der mit gekochtem Weizen oder Reis und Ricotta gefüllt wird. Mein Vater stammt aus der Region Kampanien, aus der diese Tradition kommt. Meine Mutter, aus Sardinien stammend, hat sich ein Leben lang standhaft geweigert, diesen Fladen für ihn zu backen. Vielleicht weil er ihr Florenz nie gezeigt hat ...? Oder er hat ihr Florenz nie gezeigt, weil sie ihm nie die Pastiera gebacken hat? Wir wissen es nicht.
Dafür bereitet sie jedes Jahr den besten Schweizer Osterfladen zu, den ich kenne.
Dieses Jahr wird es an Ostern nur die Colomba und ein Gläschen Spumante dazu geben und auch das Essen wird nicht so üppig ausfallen. Meiner Mamma schmerzen die Arme, sie mag an den Feiertagen nicht mehr so viel arbeiten.

Buona Pasqua a tutti!

Und hier das Rezept für die Pastiera napoletana:
http://www.essen-und-trinken.de/rezept/97459/pastiera-napoletana.html

Sonntag, 17. März 2013

Wenn einem zum Thema Heimat und Identität nichts in den Sinn kommt.


Mein Kopf ist leer. Ich kann mich weder an eine persönliche noch an fremde Geschichten über Identität und Heimat erinnern. Seit gestern durchforste ich mein kleines Archiv an Notizen, Erinnerungen, Stichworten und Zeitungsartikeln zu diesem Thema – doch nichts passt. Und dabei wollte ich jede Woche einen Beitrag schreiben.

Diesen Blog habe ich unter anderem auch angefangen, weil ich mich selber durchs Schreiben klarer finde. Schreiben gibt mir Halt. Hält mich zusammen. Genauso wie Meditation und Yoga. Und wenn ich es mir richtig überlege, trägt es ein stückweit auch zur persönlichen Identität bei und vermittelt manchmal sogar ein Gefühl von Heimat. Nicht die Heimat, die an eine Nationalität gebunden ist, sondern die ureigene Heimat im Menschen selber. Die Heimat, die man nicht verlieren und auch nicht vermissen kann, weil man sie ständig mit sich rumträgt.

Fast ein Jahr lang hatte ich mir überlegt, ob ich einen Blog beginnen soll oder nicht. Und wenn ja zu welchem Thema. Es sollte ein Thema sein, das mich nicht einschränkt und mir die Möglichkeit gibt, regelmässig zu schreiben. Kein Rezepte-Blog, kein Life-Style-Blog, kein Reise-Blog, sondern ein Blog, der einen bestimmten Aspekt meines Lebens beleuchtet.

Und so bin ich gestern und heute – beim Durchstöbern meiner Notizen – auch auf  meine diversen Textfragmente zur Lebensgeschichte meines Grossvaters väterlicherseits gestossen, der vor über 100 Jahren zwei Mal nach Amerika auswanderte.
Sieht ganz so aus, als ob Auswandern bei uns in der Familie liegen würde. Zumindest in derjenigen meines Vaters. Es ist ein Herzenswunsch von mir – aber ich glaube kaum, dass ich es in diesem Leben noch schaffen werde –, einen Roman über die wundersame Geschichte meines Grossvaters zu schreiben. Und dies, obwohl ich nun doch bereits schon ziemlich viel Material zusammengetragen habe. Vielleicht werde ich euch seine Geschichte hier auf diesem Blog erzählen ...

Man kann Kommentare übrigens auch direkt auf diesem Blog hinterlassen (siehe Funktion unten). Dann allerdings können sie alle lesen. Ansonsten freue ich mich auch sehr über persönliche E-Mails.

Montag, 11. März 2013

Firenze


Danke an alle, die meinen Blog lesen – für die Anteilnahme und die schönen Kommentare. Ein Freund von mir fühlte sich von Roma Termini so inspiriert, dass er noch heute einen eigenen Text zu diesem Thema verfasst hat, den ich jetzt hier auf meinen Blog stellen darf.

Ich kenne auch so einen Zug, ich habe ihn über Jahre genommen. Ich arbeitete damals in Bern, meine Eltern waren gerade in die Toskana gezogen, mein Vater lebte noch. Ein paar Mal im Jahr bin ich von der Arbeit direkt zum Bahnhof gegangen und habe mich in diesen Zug nach Roma gesetzt. Ein Sessel, kein Liegeabteil, das war mir damals zu teuer. Familien, Kinder, Studenten, Touristen. Es wurde viel gesprochen, in allen Sprachen, vor allem Italienisch. Am lautesten waren die Amerikanerinnen in ihren kurzen Shorts. Zuerst wurde gegessen, dann wurde es still und draussen dunkel. Die Leute versuchten zu schlafen oder lasen, plauderten ruhiger. Die Amerikanerinnen lachten laut oder schliefen laut.
Der Zug hielt oft, meistens blieb er lange stehen, wurde an einen anderen Zug gekoppelt, fuhr endlich weiter. Bei jedem Halt ruckelte er die Reisenden wieder wach. Neue Gespräche, wieder einschlafen. Aber ja nicht zu lange schlafen, um den Halt in Florenz nicht zu verpassen.

Diesen Zug zu nehmen, das war wie durch Zauberhand von einer Welt in die andere zu gleiten. Ich stieg abends, nördlich der Alpen, in den Zug ein und am nächsten Morgen, südlich der Alpen, stand die Sonne rot am Horizont. Ich befand mich in einem anderen Land. Die Temperatur, das Klima waren anders, die Sprache war anders, der Ton war anders. Ich war in Florenz.
Es war ungefähr 5 Uhr morgens, niemand kannte mich, die Stadt gehörte mir. Zu Fuss ging ich durch die Strassen, die Geschäfte waren noch geschlossen, es fuhren noch keine Busse. Eine Bar rollte langsam das Eisengitter hoch. Dort trank ich meinen ersten Kaffee, ass ein Panini und las die Zeitung. Das heisst, ich las bloss die Titel, den Rest verstand ich kaum.
Dann spazierte ich durch die leeren Strassen der Stadt. Vorbei an all diesen gigantischen Bauten, vor denen in ein paar Stunden tausende von Menschen Schlange stehen würden.
Im gedeckten Markt war Leben, es war laut und es roch nach Fleisch, Fisch und Käse. Weiter, auf die Piazza della Signoria, wo ich mir den David anschaute und an den Scheiterhaufen des Savonarola denken musste und zum Schluss noch durch die Gasse, in der Dantes Beatrice gelebt haben soll ... Und dann wieder zurück zum Bahnhof, um den Zug nach Siena und weiter nach Buonconvento zu nehmen, um endlich in mein neues deutsch-norwegisch-sprachiges Elternhaus, in dem aber auch Französisch gesprochen wurde, anzukommen.

So geht es mir heute noch, dass ich aus einem Land, das nicht meines ist, in ein anderes Land reise, das auch nicht meines ist – da und dort ein Ausländer bin. Und auch wenn ich nach Norwegen reise, in «mein» Land, bleibe ich ein Ausländer.
Die alten Häuser des mittelalterlichen Florenz, das Wasser des Arnos oder der Aare, die Hügel der Toskana oder die Weiden des Neuenburger Jura, das Lächeln der Leute auf der Strasse, auf allen Strassen, das Kommunizieren in allen Sprachen – mit Händen und Füssen – das ist mein Zuhause. Meine Wurzeln sind relativ. Ich kann sie festsetzen, wo ich will.

Dag Ivar

Sonntag, 10. März 2013

Roma Termini


Eine Bekannte fragt nach Tipps für Rom und in meinem Kopf beginnt ein Film zu laufen, an den ich schon lange nicht mehr gedacht hatte ... grazie, Nora!
Erinnerungen an meine frühe Kindheit tauchen auf, als wir, wie viele andere sogenannten italienischen Gastarbeiter damals auch, in den Sechzigerjahren und noch weit darüber hinaus jeden Sommer mit dem Zug für vier lange Wochen in das Heimatdorf meines Vaters fuhren.
Wir, das waren meine Mutter, mein Vater, meine ältere Schwester und ich. Damals gab es noch einen direkten Nachtzug, der am frühen Abend in Basel losfuhr und am nächsten Morgen kurz vor acht in Rom ankam.
Mein Vater war für die Fahrkarten und das Schleppen der Koffer verantwortlich, meine Mutter für die Kofferinhalte und den Reiseproviant. Selbstgemachte Panini, Früchte, Wasser und Süsses für uns Mädchen und – ganz wichtig für die Erwachsenen – starker, heisser Espresso aus der Thermoskanne für den nächsten Morgen.
Der nächste Morgen, das war Florenz in rosagoldenes Sonnenlicht getaucht und der stets gleiche Satz meiner Mutter an meinen Vater: «Wann zeigst du mir denn endlich mal Florenz?» Mein Vater lächelte nur und streckte meiner Mutter den leeren Becher hin, den sie mit Espresso auffüllte und von dem auch ich ein Schlückchen kosten durfte.
Der Zug fuhr weiter. Das Ziel war Roma Termini und mir schien, als würde es von Florenz bis Rom ewig dauern.
Ich beobachtete meine Eltern. Je näher Rom rückte, desto verklärter wurden ihre Blicke. Sie hatten sich Anfang der Fünfzigerjahre in Rom kennengelernt und waren dort, bevor sie heirateten, vier Jahre lang verlobt gewesen. Sie kannten jeden Winkel der ewigen Stadt, waren, einander an den Händen haltend, auf jeden der sieben Hügel gestiegen, hatten Zukunftspläne geschmiedet, sich gestritten, wieder versöhnt und heimlich geküsst, denn damals war das so. Meine Mutter wohnte und arbeitete als Kindermädchen in einer gut situierten römischen Familie, mein Vater war ein schöner Unteroffizier in schmucker Uniform und wohnte in einer Militärkaserne.
Ihre Geschichte, die sie uns jedes Jahr aufs Neue und mit sichtlichem Genuss erzählten, vertrieb uns Kindern die Langeweile auf den letzten Kilometern vor Rom.  
Bis dann endlich der Schaffner vorbeikam und verkündete, dass wir demnächst in der Stazione Roma Termini ankommen würden. Hier stiegen alle Reisenden aus. Mein Vater organisierte einen Gepäckträger, der unsere Koffer auf den richtigen Bahnsteig für die Weiterfahrt brachte. Die Lire für den Gepäckträger trug er lose in der rechten, vorderen Hosentasche auf sich und nicht wie die Franken in der Schweiz säuberlich geordnet im Portemonnaie. Das wirkte sehr locker und lässig auf mich. Er war jetzt daheim, in seiner Heimat, konnte sich problemlos verständigen und wurde problemlos verstanden.
Unsere Ferien hatten endlich begonnen. In den Koffern warteten die neuen Sommerkleider, die uns meine Mutter jedes Jahr pünktlich vor den Ferien im Ausverkauf gemäss ihren äusserst strengen Kriterien nach italienischer Ästhetik, Qualität und gutem Preis aussuchte und kaufte. Auf mich wartete ausserdem eine kleine, durchsichtige Wasserpistole für den Strand, die mir mein Vater jedes Jahr neu kaufte.
Der Regionalzug, der uns weiter in den Süden, in das Heimatdorf meines Vaters bringen würde, fuhr erst in ungefähr vier Stunden.
Roma Termini, das waren Rudel von erstaunlich jungen, schwarz gekleideten Nonnen mit grossem Kruzifix um den Hals und Matrosen in weissen Uniformen mit glänzend goldenen Knöpfen. Bilder, wie man sie aus den Filmen von Fellini kennt. Und mittendrin waren wir mit unseren Koffern. Gastarbeiter aus Italien, ausgewanderte Italiener aber auch Gli svizzeri. So wurden bald einmal die in die Schweiz ausgewanderten Italiener von den Daheimgebliebenen genannt. Das war befremdlich und stellte mich schon sehr früh vor Fragen, die ich den Erwachsenen kaum zu stellen wagte. Das Thema war emotional geladen.
Roma Termini, das waren hohe, schwarze Marmorquader mit einer Öffnung, in die man sich hineinsetzen oder auch legen konnte und kleine Trinkbrunnen, die zur Erfrischung dienten.
Roma Termini war stundenlanges Warten auf den fast immer mit Verspätung eintreffenden Regionalzug. Ein Regionalzug mit harten, unbequemen Holzbänken, geblümten, staubigen Vorhängen und auf Kinderaugenhöhe angebrachten Schildern mit der Aufschrift: Non gettate alcun oggetto dai finestrini.
Aber noch waren wir in Rom, an diesem wunderbaren Bahnhof, der meine Fantasie anregte. Irgendwann in den vier Stunden Wartezeit holte meine Mutter an einem Ort, den sie noch von früher kannte, in Begleitung meiner älteren Schwester kleine Pizzas für uns alle.
Ich selber verspürte nie den Drang mitzugehen. Ich zog es eindeutig vor, zusammen mit meinem Vater auf unsere Koffer aufzupassen. Beide schwiegen wir dabei. Er hing seinen Gedanken nach, lief ein bisschen umher – die Koffer und mich stets im Auge behaltend – während ich die Menschen um uns herum beobachtete und gleichzeitig von der Wichtigkeit unserer gemeinsamen Aufgabe komplett erfüllt war.